4-Gänge-Menü oder: Dänisches Coaching á la CVT
choriosity
Nach fast 4 Jahren bei Choriosity war die Vorfreude auf mein 6. Probenwochenende (kurz: ProWo) mit dem Chor größer denn je. Zweieinhalb Tage singen bis der Hals kratzt, harte Matratzen in kleinen Jugendherbergszimmern, viel zu wenig Schlaf und kaum eine ruhige Minute für sich – klingt doch nach einem traumhaften Wochenende, nicht wahr?
Freitag, 27.04.2018, 17.30 Uhr. Nach und nach trudeln kleine Gruppen von Chorsängern in der Jugendherberge in Sigmaringen ein. Zimmer werden verteilt, Gepäck verstaut, Betten bezogen. Um 18 Uhr gemeinsames Abendessen im großen Speisesaal, den wir quasi für uns alleine haben, da die Kapazitäten der Jugendherberge mit uns 105 Choriosen fast ausgelastet ist.
Da unser Special Guest (dazu später mehr) erst noch von Chorleiter Monty vom Flughafen Stuttgart abgeholt werden muss, vertreiben wir uns die Zeit bis Probenbeginn damit, uns ein bisschen besser kennenzulernen. Bei lauen Temperaturen bilden wir im Hof einen beachtlich großen Stuhlkreis und kommen beim Spiel „Alle, die ...“ schnell ins Schwitzen – ob aufgrund des ein oder anderen Sprints, den man einlegen muss um den letzten Sitzplatz im Kreis zu ergattern, oder weil die ein oder andere pikante Aussage in die Runde geworfen wird – man weiß es nicht. Anschließend sortieren wir uns nach verschiedenen Kriterien auf dem Hof. Dabei stellt sich heraus, dass zwischen der kleinsten und der größten Person im Chor knapp ein halber Meter liegt und dass bei Choriosity Norddeutschland bereits in Heidelberg beginnt, denn weiter nördlich ist kaum jemand von uns geboren.
An diesem ProWo gibt es eine Premiere, denn Monty hat uns einen Coach organisiert. Christian Ronsfeld, der seit einigen Jahren in Dänemark lebt und dort mehrere Chöre leitet, ist extra aus dem hohen Norden angereist und macht direkt einen sehr sympathischen Eindruck auf uns. Bis Samstagabend wird Christian unsere Proben begleiten. Da wir an vielen Stücken schon gute Vorarbeit geleistet haben, geht es weniger darum, die einzelnen Stimmen zu lernen, sondern mehr um das Herausarbeiten von Feinheiten und die Optimierung des Gesamtklangs. Monty und Christian haben sich vor 2 Jahren bei einem Workshop zur „Complete Vocal Technique“ (CVT) kennengelernt. Die CVT beschäftigt sich u.a. mit Klangfarben (hell vs. dunkel), mit vier sog. Vocal-Modes oder „Gängen“ (Neutral, Curbing, Overdrive und Edge), die beim Singen genutzt werden können, und damit, wie generell beim Singen Klänge auf gesunde Weise erzeugt werden können. Orientiert an der CVT arbeitet Christian mit uns über das Wochenende bei vielen Stücken heraus, welche Abschnitte jeweils in welchem „Gang“ gesungen werden sollten. Wir spielen mit Klangfarbe, Artikulation und Intonation und machen uns Gedanken darüber, was die einzelnen Lieder eigentlich aussagen wollen. Christian gibt uns Impulse und einfache Tricks und Übungen, durch die es uns gelingt jedes Stück auf ein ganz neues Level heben. Dazu wird Whitney Houstons I Wanna Dance With Somebody in Nullkommanichts zur dreistimmigen Gesangsübung umfunktioniert, wir werden mit unserem Nebenmann/unserer Nebenfrau zu bewegungslegasthenischen Marionetten, wir meistern das „Schwiegermutter-Lächeln“ und machen aus so manchem Stück mit großer Gestik und Theatralik eine Musical-Nummer – alles für den „guten Zweck“, versteht sich. Wir werden uns der Message von Man In The Mirror bewusst, Nightcall erstrahlt in neuem Klang, bei Chandelier hat plötzlich jeder Gänsehaut, Ich Seh Dich klingt wie aus einem Munde gesungen und ein neues Stück haben wir nach nur zwei Probeneinheiten komplett einstudiert. Noch nie zuvor haben wir an einem Probenwochenende an so vielen Stücken parallel gearbeitet und dabei so große Fortschritte erzielt. Die Arbeit mit Christian macht unglaublich viel Spaß und es ist schön zu sehen, wie Montys Augen größer werden und sich ein Lächeln auf sein Gesicht schleicht, wenn uns der Coach wie von Zauberhand nie dagewesene Klänge entlockt. Die beiden Chorleiter ergänzen sich wunderbar und inspirieren sich in ihrer Arbeit ganz offensichtlich gegenseitig.Die erste Probeneinheit am Freitagabend beschließt Philipp mit einer kurzen Anekdote darüber, wie er zu Choriosity gefunden hat und drückt dabei seine Dankbarkeit aus ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein, die für mehr steht als „nur“ gemeinsames Singen. Dann gibt er auch uns die Gelegenheit einmal Danke zu sagen und plötzlich ist der Raum erfüllt von herzlichen Umarmungen, persönlichen Worten und (ohne kitschig klingen zu wollen) ganz viel Liebe.
Als hätten wir nicht schon genug gesungen, versammeln sich sowohl am Freitag als auch am Samstag nach Ende der Proben zahlreiche Chormitglieder im Diskokeller und schmettern zu Gitarrenbegleitung bis in die frühen Morgenstunden einen Klassiker nach dem anderen – ganz ohne Noten, Stimmverteilung und Rücksicht auf (Stimm-)Verluste. Und wenn man sich dann doch irgendwann losreißen kann, weil man eigentlich noch ein paar Stunden Schlaf bekommen möchte, schallt unterwegs eine kleine Gruppe aus dem Probenraum, die scheinbar gerade dabei ist das gesamte Chorrepertoire durchzusingen – und wer will schon ins Bett gehen, wenn er/sie die Möglichkeit hat mal wieder Put On A Happy Face und You’re The Voice zu singen? ;)
Ein Highlight für jeden von uns ist sicherlich die Kerzenscheinprobe am Samstagabend. Nachdem wir den ganzen Tag an Tönen, Intonation, Dynamik und Rhythmus gearbeitet haben, versammeln wir uns nun im Schlafanzug bei Kerzenlicht und Mondschein und es geht einfach nur darum, gemeinsam entspannt und von Herzen zu singen. Für eine Stunde vergessen wir alles, was außerhalb des Probenraums liegt und sind einfach da, einfach im Moment, singen ein Stück nach dem anderen und lauschen den Klängen, die uns umgeben.
Nach einer zweiten kurzen Nacht hängen die Augenlider während der letzten Proben am Sonntag etwas tiefer als sonst und auch unsere Intonation weist einen gewissen Abwärtstrend auf. Wieder auf uns alleine gestellt, nachdem unser Coach am frühen Morgen abgereist ist, arbeiten wir trotzdem fleißig weiter und es gelingt uns auch heute vieles von dem umzusetzen, was Christian uns mit an die Hand gegeben hat.
Am Nachmittag beenden wir das Wochenende wie wir es begonnen haben: In einem großen Kreis (diesmal auf der Wiese), und mit der fast schon traditionellen Umarmungsrunde – jeder umarmt zum Abschied jeden! Das dauert bei über 100 redseligen Choriosen schon mal gute 45 Minuten. Ich habe mir sagen lassen, dass in dieser Zeit fast 5000 Umarmungen ausgetauscht wurden (Angaben ohne Gewähr)!
Auch die eine oder andere Träne fließt, denn wir verabschieden uns von Fanni, Jana, Anna und Toto, die Ulm und Choriosity verlassen, um zu neuen Lebensabschnitten aufzubrechen. Für alle vier füllten sich im Laufe des Wochenendes Marmeladengläser mit persönlichen Nachrichten, Wünschen und Dankesworten, die wir ihnen mit auf den Weg geben wollen. Wir werden euch vermissen und wünschen euch alles Gute! <3
Müde, aber glücklich, machen wir uns auf den Heimweg. Schlussendlich ist es egal, dass wir an diesem Wochenende zu wenig Schlaf bekommen haben. Jede Minute, die wir länger wach waren, haben wir mit tollen Menschen verbracht. Konstant von so vielen Leuten umgeben zu sein ist auf Dauer anstrengend, aber das Gefühl der Verbundenheit, das in dieser Zeit beim gemeinsamen Singen, Spielen und Reden entsteht, macht es das allemal wert. Innerhalb des Chors sind wir näher zusammengerückt. Wir haben so viel Zeit und Energie in die Probenarbeit gesteckt und sind dadurch unserem Ziel, im Juni zwei fantastische Konzerte auf die Bühne zu bringen, ein großes Stück näher gekommen. Am Ende des Wochenendes sind wir erfüllt mit Zufriedenheit und Stolz auf das, was wir als Chor, als Gemeinschaft, geleistet haben – was nur möglich ist durch den individuellen Beitrag jedes einzelnen.
Halsschmerzen vergehen, aber die Erinnerungen an dieses ProWo bleiben.
Eure Louisa :)
Fotos: Jonas Sanner