Es wird Zeit für eine Erklärung
choriosity
Wer uns regelmäßig auf Social Media folgt, wird in unseren Beiträgen einer bestimmten Metapher wiederholt begegnet sein: Nämlich der mit den Keksen. Egal ob #kekse, #keinekekse oder andere Keksvarianten; dieser Chor scheint irgendetwas mit süßem Kleingebäck am Hut zu haben, oder alternativ „einen an der Waffel“.
Was steckt dahinter, was kann es sein?
Unser Chorleiter verwendet die „Keksmetapher“ immer sehr gerne, wenn es um eine Einordnung von Prioritäten geht und ein Gedanke im Keim durch kleinere Nebensächlichkeiten erstickt zu werden droht. Der Ursprungsdialog und die Geburtsstunde der Metapher könnte etwa so gelaufen sein: Ein ambitionierter Mensch sagt etwas wie „Wir gründen eine Projektgruppe und treffen uns da regelmäßig, jeder darf kommen, es gibt Kekse, es werden Ideen ausgetauscht und die bedeutenden dann auch diskutiert, wir haben Gelder, mit denen das Projekt umgesetzt werden kann und wir wissen auch schon von vielen Menschen, dass sie sich gerne am Projekt beteiligen würden!“ Und als Reaktion darauf kommt nur: „Aber wir haben doch gar keine Kekse...“ Klar soweit?
Tja. Diese Metapher war schön und gut, bis das Jahr 2020 um die Ecke kam und mit ihm die vermaledeite Corona-Krise, und auf einmal gab es wirklich überhaupt keine Kekse mehr. Nicht mal Krümel. Wenn man die Metapher etwas auflockert und Choriosity nicht etwa als Keksverbraucher, sondern selbst als großen schmackhaften Keks sieht, waren auf einmal nicht einmal mehr die Grundzutaten verfügbar.
Mehl: Keine Chorproben mehr! Die Grundsubstanz jeden Chores. Wie sich herausstellte, sind wenige Aktivitäten besser zur Verteilung und Weiterverbreitung von Aerosolen und virushaltigen Tröpfchen geeignet als das Singen, oder weniger schmeichelhaft formuliert „sich gegenseitig mit mächtig Wumms ins Gesicht spucken“. Relativ schnell wurde klar, dass Chorproben bis auf weiteres nicht möglich sind, vor allem nicht mit einhundert Menschen in unserer Heimat, dem Bonhoeffer-Saal des Cafe JAM. Ab März mussten wir schweren Herzens den Probenbetrieb wie wir ihn kannten bis auf Weiteres einstellen.
Zucker: Keine Auftritte mehr! Das, was vielen Sängern die teilweise auch sehr anstrengenden Proben versüßt, ist das Ziel. Auf eine präsentierfähige Version eines Liedes hinzuarbeiten bringt Erfüllung, und es dann gemeinsam auf die Bühne zu bringen macht stolz. Nicht zu vergessen die Aufregung zuvor, das involvierte Adrenalin und die Tonnen und Tonnen an Serotonin, die so ein Sängersystem um Auftritte herum fluten. Einige der besten Tage meines Lebens waren Konzerttage. Dieses Jahr jedoch: Nada, niente, alles, was sich schon in Planung befand wurde abgesagt, nicht nur unsere großen Jahreskonzerte, sondern auch das Deutsche Chorfest, in dessen Vorbereitung schon viel Arbeit geflossen war, und alle kleinen feinen Auftritte außenherum.
Butter: Keine Freunde mehr! Natürlich kommt man zum gemeinsamen Singen in den Chor, aber eben nicht ausschließlich. Es gibt Mitglieder, die dezidiert von sich behaupten, vor allem wegen der Leute bei Choriosity dabei zu sein. Ich würde aber einmal behaupten, dass bei jedem unserer Mitglieder die Menschen einen gewissen Part spielen. Es ist nicht nur das Singen, es ist auch der Austausch davor, in den Pausen, auch während des Übens mal in seltenen Ausnahmefällen hust und vor allem natürlich nach den Proben. Wir sind ein Chor, der stolz ist auf seine sozialen Magnetkräfte, nicht umsonst haben wir uns einen Probenort mit integrierter Bar ausgesucht (... nicht wirklich, aber... naja). Hier sind Freundschaften entstanden und Beziehungen, und manche Leute seines sozialen Umfelds trifft man auch einfach nur beim Chor. Das heißt, dass diese Beziehungen erstmal komplett auf Eis gelegt wurden.
Eier: Keine Musik! Jeder, der schon einmal gemeinschaftlich musiziert hat, weiß, welche Gefühle und Momente damit verbunden sind. Wenn alles schwingt, alles passt, Dynamiken entstehen, von denen man nicht wusste, dass man sie erzeugen kann. Und nicht nur die gemeinsame Musik fehlt, sondern bei Vielen auch das regelmäßige Training. Denn Singen ist Arbeit und die Stimmbänder sind Muskeln (ja, irreführender Name an der Stelle), die genauso verfetten und einrosten können wie alle anderen Lockdown-bedingt geschonten Körperpartien. Und wer stellt sich schon jede Woche zwei Stunden hin und trainiert genau diese Muskeln? Ohne Chor wohl sehr wenige.
Salz: Keine Disziplin! Das Salz in der Suppe, ja, aber ein regelmäßiger Probentermin, die Implikation von Auftritten und eine effiziente Probenkultur helfen natürlich, schöne Musik zu machen. Und wenn das fehlt, dann fehlt der Drive.
Chocolate Chips: Keine Momente! Natürlich braucht man nicht unbedingt Schokolade im Keks, er schmeckt auch ohne, aber es wird dadurch schon unbestreitbar besser. In unserem Chorsetting bezeichne ich als „Momente“ einfach mal alles zwischendurch, egal ob Probenwochenenden, ein kollektiver Lachflash in der Probe, das Fieber im Angesicht eines neuen Projektes... Kleine Dinge, die Abende besser machen, von denen man zehrt.
Auch chorfern sozialisierte Menschen erkennen spätestens hier: Chor-Keks in Zeiten von Corona – ist nicht. Von gemeinschaftlicher Vokalmusik gilt es aktuell Abstand zu nehmen, und hier reichen auch keine 1,5 Meter. Wir leben in sehr Chor-feindlichen Zeiten und damit kann man sich abfinden und den Kopf in den Sand stecken, oder man kneift die Pobacken zusammen und sieht, wie man mit den Gegebenheiten arbeiten kann. Und das haben wir nach Leibeskräften versucht.
Chorproben/Musik: Zum Glück leben wir in Zeiten des Internets – es erleichtert zwar massiv die Verbreitung eingeschränkt korrekter Fakten, dafür aber auch andere, nützlichere Aspekte des Lebens. Initial stürzten auch wir als Chor uns auf das Tool der Stunde und nutzten Zoom, um weiterhin Probenarbeit zu ermöglichen. Zuerst in der Form, dass Monty mit Klavier oder MuseScore ein Gerüst bot, an dem jeder für sich zuhause entlangsingen konnte. Das war insofern sehr nützlich, als es egal ist, von wo aus geprobt wird. Unser Chorleiter verbrachte zum Beispiel den ersten Lockdown in Neuseeland (Urlaubs-Fail!) und schaltete sich für ihn frühmorgens zu unserer Probe. Neben Zoom her zu singen ist zwar besser als nichts, immerhin singt man, aber von den anderen bekommt man wenig mit. Dank unfassbarer Latenzen ist gemeinsames Singen in Zoom unmöglich.
Umso größer war die Freude, als im Sommer wieder real-life Proben möglich waren! Wir probten in Schichten im JAM, damit die Abstände eingehalten werden konnten, und mit Maske. Es wurde ein Hygiene-Team ins Leben gerufen, das auf die Einhaltung der Vorschriften achtete. Wir probten manchmal auch draußen und in den Sommerferien im Schulhof der Franz-Liszt-Schule, wo auch wieder mehr Menschen auf einmal teilnehmen konnten. Als es kühler wurde, verlagerten wir unsere Chorarbeit ins ROXY Ulm, wo wir die Werkhalle mieten konnten. Unter Einhaltung aller Abstände konnten hier 50 Leute gleichzeitig singen und es fühlte sich fast wie eine normale Probe an.
Leider machten die steigenden Infektionszahlen dieses Vorgehen im Verlauf unmöglich. Erneut verkrümelten wir uns vor unsere Laptops und probten digital – diesmal jedoch mit Jamulus, einem Server, der Latenzzeiten minimiert. Hier kann man tatsächlich gleichzeitig singen und es hört sich sogar nach etwas an. Betreut wird der Server durch einzelne super motivierte Chormitglieder, die auch bereitwillig support und troubleshooting anbieten, zur Probenzeit und auch dazwischen. Vielen Dank!!!
Jamulus ist auch aktuell unser Modus, denn the show must bekanntlich go on, und wir wollen schließlich bereit sein für...
Auftritte: Wann wir wieder ein Konzert geben können, ist nach wie vor komplett unklar. Um jedoch weiterhin präsent zu bleiben bei unseren treuen Fans, gestalteten wir im Laufe des Jahres zwei „Virtual Choir“-Videos zu unseren Klassikern Chandelier und Don’t Stop Me Now, die wirklich sehens- und hörenswert geworden sind. Außerdem gibt es dieses Jahr zum allerersten Mal einen Choriosity-Projektchor, in dem eine kleinere Mannschaft ein weihnachtlich-winterliches Sonderrepertoire einstudiert und auch präsentieren wird – das aktuelle Video zu „Es kommt ein Schiff geladen“ ist kurz vor Weihnachten online gegangen. Auf Social Media fand sich neben unseren „normalen“ regelmäßigen Posts auch ein Choriosity-Talk zu aktuellen Themen. Und natürlich üben wir weiter, um sobald ein Startschuss für den Kulturbetrieb gegeben wird, schnellstmöglich präsent zu sein und Ulm mit der bewährten A-capella-Power einzuheizen.
Soziales/Momente: Klar, ein Treffen in Person ist nur schwer zu imitieren. Außerdem schreitet die Zeit unweigerlich voran, und auch dieses Jahr mussten wir einige geliebte Chormitglieder verabschieden – teilweise ohne sie noch einmal gesehen zu haben oder einen würdigen Abschied begehen zu können. Das ist unwahrscheinlich traurig, vor allem für die engagierten Mitglieder, die sich das sicher anders gewünscht hätten. Aber es hilft ja nix. Sicher wird sich in Zukunft der ein oder andere Abschied nachholen lassen. Auf der erfreulichen Seite, haben wir auch im Lockdown neue Mitglieder begrüßen dürfen! Das ist natürlich der holprigste Start, den man sich vorstellen kann, aber viele Neumitglieder haben die Herausforderung angenommen und proben fleißig digital mit. Hut ab dafür, es gibt sicher Leichteres und Bequemeres, was man in seiner Freizeit anstellen kann. Daneben gab es für uns trotzdem schöne Gespräche in Zoom, einen Choriosity-Stammtisch mit Escape Room-Spielen und eine ziemlich beeindruckende digitale Weihnachtsfeier in einem eigens dafür online nachgebauten Cafe JAM, mit Programm, Gesang und netten Gesprächen. Auch ermöglicht von einigen engagierten Mitgliedern. Auch hierfür: Vielen Dank!
Disziplin: Tja, die erfordern die neuen Zeiten natürlich umso mehr. Eigenverantwortung ist gefragt zur Corona-Time, nicht nur um der Pandemie Herr und Dame zu werden, sondern auch, wenn so ein Chor lebendig bleiben soll. Wir sind gespannt, wie wir aus der Krise herausgehen, mit wem, mit welchem Programm, mit welchem Mindset. Aber ich denke, es hilft immer, schwierige Umstände als Chance zu begreifen. Und Wachstum war wieder einmal drin für uns.
Was soll man also noch sagen zu 2020?
Ein übles Jahr für Chöre und Kleingebäck. Trotzdem haben wir uns am Riemen gerissen und das Beste draus gemacht, allen voran Monty, der allen Widrigkeiten zum Trotz diesen Chor durch die Krise geführt hat und das ja leider auch noch weiterhin tun muss. (Ein riesen Danke auch an ihn.) Normalität ist noch nicht in Sicht. Dennoch erfüllt mich mit Stolz, was dieses Jahr passiert ist: Wir haben die Vorratskammer auf den Kopf gestellt und mit den letzten verfügbaren Resten einen eigenen Keks gebacken – und ihn mit den Worten „Da, bitte“ diesem Corona-Virus serviert. Es mag zwar ein veganer glutenfreier Rosinen-Diätkeks ohne künstliche Zusatzstoffe sein, aber wie jeder weiß, der einmal einen Gebäckteller in einer WG oder einer Kaffeeküche hat stehen lassen: Auch der wird gegessen. Und manchmal schmeckt er dann doch sehr gut.
Frohe Weihnachten,
Guten Rutsch,
und ganz wichtig: Bleibt gesund.
Laura für Choriosity